Ein Gastartikel von Mona Debus (Bsc. Psychologie, online-Beraterin DGOB)

Stell dir vor, du  erzählst einer Arbeitskollegin von einem Konflikt mit deiner Chefin, lässt dabei eine Menge unfaire Worte über die Chefin fallen und dann sagt deine Kollegin freundlich, aber klar zu dir, dass sie deine Lästerei gerade nicht so richtig gut findet.  
 
Das Gefühl, dass dich dann schlagartig überkommt – einfach furchtbar, oder? Es durchschießt deinen Körper heiß und kalt, deine Wangen und dein Hals überlaufen rot, dir wird ganz schwach zumute, du fällst förmlich in dich zusammen. Am liebsten würdest du im Erdboden versinken. Stattdessen schlägst du vielleicht die Augen nieder und senkst den Blick, vielleicht bedeckst du sogar dein Gesicht mit den Händen, wenn du dich später an diese Szene erinnerst. Du möchtest dich gar nicht in dem Spiegel sehen, den dir deine Kollegin vorgehalten hat. Du bist erfüllt von Scham. 

Scham – was ist das eigentlich? 

Scham zählt zu den „sozialen“ Gefühlen, denn sie sagt etwas über unsere Beziehung zur sozialen Welt aus. Sie entsteht dann, wenn etwas von uns entblößt wird, was wir lieber vor den Blicken der anderen verborgen gehalten hätten. Scham stellt sich dabei häufig dann ein, wenn das, was plötzlich offensichtlich wurde, nicht mit unseren inneren oder mit äußeren Standards übereinstimmt. Eigentlich wollen wir ja nicht mit jemandem heimlich über die Chefin reden, sondern integer genug sein, den Konflikt offen und fair mit ihr selbst zu klären; wir wollen kein Lästermaul sein.  
In schamhaften Situationen wird etwas offenbar – vor uns selbst und vor anderen –   was uns als Ganzes betrifft, was gar in Identität mit uns ist. Unser Wert an sich scheint in diesen Momenten erschüttert. Scham rüttelt an unserem Selbstwert und ist damit ein zutiefst verstörendes Gefühl.  

Beschämung

Wenn wir be-schämt werden, entblößt uns jemand, er macht uns schämen. Etwas, was eigentlich unsichtbar oder unauffällig hätte bleiben können, eine Lappalie, wird willkürlich ans Licht gezerrt. Hast du das auch schon erlebt? Ein Missgeschick ist dir geschehen, ein bisschen peinlich war es dir, aber nicht so schlimm. Vielleicht ist dir in Gesellschaft ein Glas auf dem Tisch umgefallen. Beschämt warst du erst in dem Moment, in dem jemand abfällig gelacht und für alle unüberhörbar gesagt hat: „War ja klar, du wieder.“ Aus einem kleinen, dir etwas unangenehmen konkreten Verhalten wurde dann allumfassende Scham. Diese Form der Scham wird von außen induziert und hat weniger mit dir als mit demjenigen zu tun, der dich beschämt.  
Diese Scham darfst du getrost bei der schamerzeugenden Person lassen. 

Scham als Wächterin des Sozialen 

Bisher mag dieser Artikel so geklungen haben, als sei Scham etwas, was man doch am allerbesten gar nicht erst hätte oder wenigstens schnell wieder loswerden sollte.  
So unangenehm dieses Gefühl auch ist, es hat doch, so wie alle Gefühle, seinen guten Sinn. Erinnerst du dich daran, als du das letzte Mal dachtest: „Der sollte sich was schämen“? Was ist da geschehen? War das, als du gesehen hast, wie jemand im Auto vor dir eine Verpackung aus dem Fenster geworfen hat? Oder war es, als du bemerktest, dass jemand seine Frau die ganze Hausarbeit machen lässt, obwohl sie beruflich genauso viel arbeitet wie er? Die sollten sich was schämen, denn wenn sie es täten, hätte die Scham die beiden Beispielpersonen davon abgehalten, sich so zu verhalten, dass es soziale Güter beschädigt. Person eins würde wahrscheinlich nicht die gemeinsame Umwelt verschmutzen, Person zwei würde sich an der gemeinsamen Hausarbeit beteiligen.  
Dass wir grundsätzlich über Schamgefühl verfügen, bewacht und reguliert unser Sozialverhalten, schützt soziale Grenzen und ermöglicht so den sozialen Zusammenhalt; beim einen mehr, beim anderen weniger. 

Scham als Wächterin des Intimen 

Wir bekleiden unseren Körper und schützen uns so vor schamlosen Blicken. Erst wenn vertraute Nähe und eine gemeinsame Intimität entstanden sind, wagen wir uns in Entblößung hinein. Nicht jeder darf uns nackt sehen, sondern nur der, dem wir vertrauen. Und bei diesem leiblichen Aspekt bleibt es nicht: Weißt du noch, wem du es zuerst erzählt hast, als du dich bis über beide Ohren in einen Klassenkameraden verliebt hattest? Dafür hast du dir bestimmt keinen ahnungslosen Passanten in der Fußgängerzone geschnappt. Eher war es ein geflüstertes und gekichertes Zwiegespräch mit deiner besten Freundin oder einer anderen Vertrauensperson an einem ganz stillen Ort ohne Mithörer. Ein bisschen verlegen warst du dabei, aber vor diesem Menschen konntest du es erzählen, während dir das bei jemand anderem zu peinlich gewesen wäre. Auch da hat dein Schamgefühl mitgemischt und dafür gesorgt, dass du dir gut überlegst, wem du etwas anvertraust und wem nicht.  

Scham loswerden?

Wie alle Gefühle vergeht gesunde Scham selbst, wenn wir ihr das ermöglichen. Aber wie geht das eigentlich, es zu ermöglichen? 
Ein sicherer Weg, um Scham zu behalten, ist, sie zu unterdrücken oder zu leugnen. Dann bleibt sie treu bei uns oder kehrt als etwas anderes zurück: als Wut, als Abwehr von Emotionen überhaupt, als Anschuldigung Anderer. Gehen kann sie erst, wenn sie ausgedient hat: wenn wir sie zunächst wahrnehmen, als eine Wächterin wichtiger innerer und äußerer Güter willkommen heißen und verstehen, was sie uns sagen will. Sie erinnert uns an unsere Werte und Ideale und schützt auf diese Weise unser Selbstverständnis. Hören wir der Scham ruhig mal einen Moment zu. So bekommen wir wieder eine genauere Idee davon, wie wir leben und wer wir sein wollen. Danach können wir die Scham in Frieden ziehen lassen und unseren Selbstwert einladen, sich wieder in uns zu zeigen. 

Destruktive Scham

Vielleicht hast du beim letzten Absatz schamvoll (!) gedacht, dass du das gar nicht kannst, Scham einfach loslassen…. Sie kommt wie ein Bumerang immer wieder zu dir zurück. Eigentlich leidest du dauernd oder sehr häufig unter starken Schamgefühlen und bist kaum noch in der Lage, so zu leben, wie du es gern möchtest. Vielleicht gehst du nicht mehr ins Schwimmbad, weil du dich für Deine körperliche Erscheinung schämst (zu dünn, zu dick, zu groß, zu klein, zu blass, knubbelige Knie, schiefe Zehen? …). Vielleicht traust du dich nicht mehr, in einer größeren Runde von Menschen etwas zu sagen, weil du dich für deine Sätze schämst. Vielleicht ziehst du dich sogar ganz vor anderen zurück.  
Möglicherweise leidest du dann unter destruktiver oder auch toxischer Scham. Dieses Gefühl sagt nicht viel über dein jetzt gerade ausgeübtes Verhalten, sondern es sagt dir wahrscheinlich etwas über deine Vergangenheit, über vergangene Verletzungen, Kränkungen des Selbstwerts, wiederkehrende Beschämung, Verletzungen deiner Grenzen.  
Diese Form der Scham ist ein seelisches Hilfegesuch an dich. Die Scham beantragt bei dir Unterstützung, damit sie eingeordnet werden kann, ihren Platz in der Vergangenheit findet und von einem Dauerzustand, der dich an der falschen Stelle lähmt, wieder zu dem werden kann, wofür sie eigentlich da ist: ein unangenehmes und dabei so wichtiges Gefühl, das dann kommt und dann geht, wenn es angemessen ist.

Zum Weiterlesen

  1. Jens L. Tiedemann „Scham“, Psychosozial-Verlag 
  1. Matthias Hammer, Irmgard Plößl: „Irre verständlich: Methodenschätze“, Psychiatrieverlag 
  1. E.E. Smith et al.: „Atkinsons und Hilgards Einführung in die Psychologie“, Spektrum Akademischer Verlag